Paarungspläne in kleinen Populationen
Die Rassegeflügelzüchter haben neben der Freude an der züchterischen Gestaltung von Rassen entscheidend dazu beigetragen, den umfangreichen Genpool an Mutationen zu konservieren. Viele der im Verlaufe der Domestikation bei unseren Hausgeflügelarten entstandenen Veränderungen durch Mutation und Selektion konnten nur unter dem Schutz des Menschen gedeihen und hätten in der Wildbahn keine Überlebenschance.
Selektion nach Aussehen
Mit der Veränderung der Wildformen und deren bewussten Erhaltung begann im Prinzip die Rassezucht, d. h. die Selektion nach Aussehen (Farbe und Form). Dazu gehören Veränderungen der Gefiederfarbe und -struktur, der Kammform, der Ohr- und Kehllappen, des Behangs, des Schwanzes und der Körpergröße. Solche außerordentlichen Merkmale wie die Seidenfiedrigkeit, existieren in Ostasien schon seit mehreren Jahrhunderten und das dunkel pigmentierte Fleisch dieser Hühner spielt heute noch eine große Rolle in der traditionellen chinesischen Medizin.
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat es in Deutschland in Verbindung mit Importen einen regelrechten Boom in der Züchtung neuer Rassen gegeben. Heute werden in der Rassegeflügelzucht rund 100 Hühnerrassen, 90 Zwerghuhnrassen, 17 Gänserassen, 22 Entenrassen sowie Puten, Perlhühner, Ziergeflügel und etwa 300 Taubenrassen bearbeitet.
Rassegeflügelzüchter nutzen ihre Freizeit für die Züchtung bestimmter Rassen und tragen damit trotz aller Schwierigkeiten zu deren Erhalt bei. Oberstes Ziel des Rassegeflügelzüchters ist es, Rassen für den Wettbewerb auf Ausstellungen zu züchten. Der Standard oder die Musterbeschreibung für die einzelne Rasse ist daher das dominierende Zuchtziel. Die Zucht auf Ausstellungsqualität ist einesteils künstlerische Gestaltung lebender Wesen nach Farbe und Form unter Beachtung der genetischen Gesetzmäßigkeiten (bewusst oder unbewusst), andernteils aber sinnvolle Hobby- oder Freizeitbeschäftigung mit großer ethischer Bedeutung.
Es geht darum, dem Standard so nahe wie möglich zu kommen. Das bedeutet zielgerichtete Paarung von Hähnen und Hennen, die dem Standard am besten entsprechen. Die verbindliche Zuchtmethode ist dabei die Reinzucht, d. h. Zucht innerhalb einer Rasse oder eines Farbenschlages einer Rasse. Mit dieser Zuchtmethode wird Reinerbigkeit bzw. Homozygotie bei den für die Standardmerkmale verantwortlichen Genen (Erbfaktoren) angestrebt. Darin liegt allerdings auch die Gefahr, dass Inzucht, d. h. Paarung von verwandten Tieren, angewandt wird. Diese ist nicht von vornherein zu verdammen, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass Inzucht auch zu Reinerbigkeit in nicht erwünschten Merkmalen führen kann und Depressionen in solchen Merkmalen wie Legetätigkeit, Befruchtung, Schlupffähigkeit und Lebenskraft hervorruft und die Reproduktion und Lebensfähigkeit der betreffenden Rasse gefährdet.
Paarung von verwandten Tieren - das bleibt in kleinen Zuchtherden nicht aus - ist im Hinblick auf Inzuchtschäden immer ein Risiko, wenngleich sie häufig angewandt wird, um bestimmte Farbausprägungen oder Formmerkmale zu betonen oder herauszustreichen. Man kann hierbei durchaus Glück haben, dass keine Inzuchtschäden auftreten, nämlich dann, wenn in der Zuchtgruppe rezessive (verdeckte) letale, semiletale und subvitale Erbfaktoren (Gene) fehlen oder nur in geringem Umfang vorkommen.
Inzucht ist planbar
Ein Maß für die Inzucht ist der Inzuchtkoeffizient. Er bringt die Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck, dass ein Tier auf Grund des Auftretens gemeinsamer Vorfahren in der väterlichen und mütterlichen Abstammung an einem Ort eines Chromosoms identische Gene besitzt.
Der Inzuchtkoeffizient bewegt sich zwischen 0 und 1 oder in Prozent ausgedrückt, zwischen 0 und 100. Die Zunahme des Inzuchtgrades je Generation in einem Bestand bei zufälliger Verpaarung kann nach folgender Formel geschätzt werden (WRIGHT, 1931): F = 1/8 Nm +1/8 Nw. Nm bedeutet Anzahl der Zuchthähne, Nw bedeutet Anzahl der Zuchthennen.
Bei 4 Zuchtstämmen mit je einem Hahn und 4 Hennen ist Nm = 4 und Nw = 16. Der Inzuchtgrad nimmt je Generation wie folgt zu:
F = 1/8x4 + 1/8x16
F = 1/32 + 1/128
F = 4/128 + 1/128 = 5/128 = 0,039 oder 3,9 %.
Nach drei Generationen wäre ein Inzuchtgrad von fast 12 % erreicht.
Allgemein kann gesagt werden, dass bei Steigerung der Inzucht um 10 % die Legeintensität um etwa 4 % und die Schlupffähigkeit um etwa 4,4 % zurückgeht. Rezessive (verdeckte) letale, semiletale und subvitale Gene werden bei Inzucht zunehmend reinerbig oder homozygot und es kommt zu einer erhöhten Embryonalsterblichkeit und damit zur geringeren Schlupffähigkeit, aber auch zu einer Senkung der Lebenskraft der geschlüpften Tiere. Bei Hähnen kommt es zur Herabsetzung der Paarungsaktivität und zur Verminderung der Spermaqualität, so dass die Befruchtungsrate sinkt.
Trotz des verständlichen Wunsches des Züchters, möglichst schnell Reinerbigkeit in den für Farbe und Form verantwortlichen Genen zu erreichen, muss er im Interesse der Gesundheit und der Reproduktionsfähigkeit die Auswirkungen der Inzucht minimieren.
Rassegeflügelzucht ist zwar in erster Linie Zucht auf Schönheit, aber jede Rasse bzw. Zucht muss reproduziert werden und demzufolge über eine vertretbare Lege- und Brutleistung und vor allem über eine gute Konstitution verfügen. Demzufolge muss versucht werden, Inzucht in Grenzen zu halten, indem keine engen Verwandten miteinander verpaart werden.
Minimierung der Inzuchtrate
Was ist zu tun, um unter den Bedingungen der Rassezucht in kleinen Populationen die Inzuchtrate zu minimieren? Wie kann man die Zunahme der Homozygotie oder Reinerbigkeit, charakterisiert durch den Inzuchtgrad, mit Hilfe systematischer Paarungspläne mildern?
Voraussetzung für solche Paarungspläne ist natürlich ein exaktes und übersichtliches Registrieren von Abstammungs- und Leistungsdaten als Grundlage für die Selektion und Paarung. Die einzelnen Zuchtstämme müssen, um sichere Abstammung zu haben, voneinander getrennt gehalten werden. Jeder Stall ist mit Fallennestern zur Kontrolle der Legeleistung auszustatten. Bei der Entnahme des Bruteies aus dem Fallennest wird die Nr. der betreffenden Henne auf der Eischale mit Bleistift vermerkt, so dass später das schlüpfende Küken der Mutter zugeordnet und mit einer entsprechenden Marke gekennzeichnet werden kann.
Für jedes Stammtier ist eine Karteikarte mit folgenden Informationen anzulegen: Kennzeichnung, Verpaarung, Abstammungs- und Leistungsnachweis von zwei Vorfahrengenerationen, Angaben über eigene Leistungen und Formbeurteilung.
Für die Vermeidung enger Verwandtschaftspaarung in kleinen Herden gibt es zwei Grundsätze:
Erster Grundsatz: Je mehr Hähne, desto mehr genetische Variabilität.
Vier kleine Stämme mit einem Hahn und drei oder vier Hennen sind besser als ein Stamm mit einem Hahn und 12 Hennen.
Bei Zucht mit nur einem Stamm werden ab der ersten Folgegeneration Halbgeschwister mit einem Verwandtschaftsgrad von 25 % oder sogar Vollgeschwistern mit einem Verwandtschaftsgrad von 50 % verpaart. Die Nachkommen haben dann einen Inzuchtgrad von 12,5 bzw. 25 %.
Zweiter Grundsatz: Hahnenrotation zwischen den Stämmen in den aufeinander folgenden Generationen.
Mit der Einführung des Linienzuchtprogramms in der DDR durch Prof. BRANDSCH in der Wirtschaftsgeflügelzucht wurde die Hahnenrotation zwischen 20 Stämmen eingeführt, so dass über 4 Generationen praktisch keine Verwandtschaftspaarung erfolgt ist. Natürlich kann kein Rassegeflügelzüchter 20 Stämme halten. Aber man kann dieses System auch in kleinen Zuchtherden anwenden, z.B. bei vier Zuchtstämmen zu je einem Hahn und vier Hennen (siehe Tab. 1).
In der ersten Generation rotieren die Hähne von einem Stamm zum nächsten, d. h. ein Sohn aus Stamm 1 wird mit 4 Töchtern des Stammes 2 verpaart. In der 2. Generation erfolgt ein Sprung über 2 Stämme, d. h. ein Sohn des Stammes 1 (Paarung 4x1) wird mit 4 Töchtern des Stammes 3 (Paarung 2 x 3) verpaart.
Dank der Hahnenrotation ist in den Generationen l und II keine Verwandtschaftspaarung erfolgt. Erst in der III. Generation werden weit entfernte Verwandte miteinander verpaart, so dass noch keine Inzuchtdepressionen zu erwarten sind. Um sicher zu gehen, könnte man für die III. Generation Hähne aus einer anderen Zucht (5, 6, 7 und 8) einsetzen. In der IV. Generation würde die Paarung wieder wie in der I. Generation erfolgen. Bei diesem Paarungssystem bleibt eine ausreichend genetische Variabilität erhalten, so dass einerseits keine schwerwiegenden Inzuchtdepressionen zu erwarten sind und zum anderen aber auch eine ausreichende genetische Variabilität bestehen bleibt, die gute Möglichkeiten für die Selektion von Tieren, die dem Standard entsprechen, bietet. In einem anderen Paarungssystem mit 4 Stämmen bilden jeweils 2 Stämme einen Block (siehe Tab. 2). Innerhalb des Blockes A erfolgt die Paarung eines Sohnes aus Stamm 2 mit 4 Töchtern aus Stamm 1 und umgekehrt. In gleicher Weise erfolgt die Paarung im Block B. In der Generation II erfolgt mäßige Inzucht mit der Möglichkeit, auf Ausgeglichenheit zu selektieren. In der Generation III wird zwischen den Blöcken verpaart, so dass der Inzuchtgrad bei den Nachkommen wieder reduziert ist. Die Paarung in der Generation III entspricht einer Kreuzung von mäßig ingezüchteten Stämmen und kann die Lebenskraft fördern. In Generation IV wird wie in Generation l verpaart. Im weiteren Verlauf wird es immer wieder zu einer milden Form der Inzucht kommen, denn es lässt sich nicht ausschließen, dass entfernt verwandte Tiere miteinander verpaart werden. Durch die Kreuzung zwischen den beiden Blöcken kommt es jedoch bis zu einem gewissen Grad zur Aufhebung der Inzucht.
Bei all diesen Paarungssystemen erfolgt natürlich auch eine Selektion, Die einzelnen Stammtiere werden nach den Standardanforderungen und nach kräftiger Konstitution ausgewählt. Dank der weitgehenden Vermeidung von Inzucht bleibt eine größere genetische Variabilität in der Nachkommenschaft erhalten, die dem Rassegeflügelzüchter zu Gute kommt, denn infolge der größeren Variation ist die Chance, die dem Standard entsprechenden Tiere zu finden, größer.
Tiere, die beim Zuchteinsatz überdurchschnittlich viele überragende Nachkommen gebracht haben, wird man über mehr als eine Zuchtsaison nutzen wollen. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn das betreffende Tier nicht mit seinen eigenen Nachkommen verpaart wird. Am besten ist es, erfolgreiche Paarungen einfach zu wiederholen.
Schlussfolgernd soll gesagt werden, wenn der Rassegeflügelzüchter auch sein oberstes Ziel in der standardgerechten Ausrichtung seiner Tiere sieht und demzufolge auf Reinerbigkeit in den betreffenden Merkmalen hinwirkt, sollte er mit Rücksicht auf die Gefahr der Inzuchtdepressionen Paarungssysteme anwenden, die eine Paarung von eng verwandten Tieren ausschließen.
Autor: Prof. Dr. Heinz Pingel
Quelle: Geflügelzeitung 2/2009